Barrierefreiheit
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Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 2025: Das müssen Unternehmen in ihrer Software beachten

In Deutschland leben 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen. Das ist fast jede zehnte Person. Um die gesellschaftliche Teilhabe allen Menschen zu ermöglichen, braucht es digitale Barrierefreiheit. Das sieht auch die EU so, weshalb sie ein neues Gesetz ins Leben gerufen hat.  

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ab 2025 verpflichtet Unternehmen, die digitale Barrierefreiheit in ihren Produkten sicherzustellen.

Doch was müssen Unternehmen jetzt tun? Gilt das Gesetz für alle Firmen und Produkte? Und welche Chancen ergeben sich für Unternehmen?

Alle wichtigen Informationen findest du hier. Außerdem geben unsere UX Designer:innen Tipps aus der Praxis und erzählen von ihren Erfahrungen:

 

1. Was ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz? 

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) soll die Barrierefreiheit für Produkte und Dienstleistungen verbessern. Es setzt die EU-Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (European Accessibility Act) in deutsches Recht um und tritt ab dem 28. Juni 2025 in Kraft. 


Das Ziel: Das Gesetz soll Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu wichtigen Produkten und Dienstleistungen ermöglichen.

 

2. Für wen gilt das Gesetz? 

Das Gesetz betrifft insbesondere Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen für Verbraucher anbieten. Es gibt Ausnahmen für kleine Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Jahresumsatz von unter 2 Millionen Euro, die von dem Gesetz ausgenommen sind. Alle anderen sind verpflichtet, die Anforderungen umzusetzen. Ansonsten drohen Bußgelder. 
 

 

3. Welche Softwareprodukte sind betroffen? 

Das Gesetz betrifft Software, die als Teil eines Produkts oder als eigenständige Dienstleistung angeboten wird. Dazu gehören:

 

1. Betriebssysteme und Benutzeroberflächen: 

  • Windows, macOS, Linux-Distributionen
  • Mobile Betriebssysteme wie Android und iOS
  • Spezielle Benutzeroberflächen für Geräte wie Geldautomaten oder Fahrkartenautomaten

 

2. Software für elektronische Kommunikation:

  • Messenger-Apps wie WhatsApp, Signal, Telegram
  • E-Mail-Programme wie Outlook, Gmail
  •  Videokonferenzsoftware wie Zoom, Microsoft Teams, Google Meet

 

 

3. Software für den Online-Handel (E-Commerce):

  • Online-Shops (z. B. Amazon, eBay, Zalando)
  • Marktplatz-Plattformen und digitale Zahlungsdienste (z. B. PayPal, Stripe)


4. Finanz- und Bankensoftware:

  • Online-Banking-Portale und Apps (z. B. Deutsche Bank, Sparkasse, N26)
  • Software für Geldautomaten und Zahlungsterminals

 

5. Software für audiovisuelle Medien und Streaming:

  • Video-Streaming-Dienste (z. B. Netflix, YouTube, Disney+)
  • Audiostreaming-Plattformen (z. B. Spotify, Apple Music)
  • Mediatheken öffentlich-rechtlicher Sender

 

6. Buchungssoftware und digitale Dienstleistungen:

  • Apps und Webseiten für Flug-, Bahn- und Busbuchungen (z. B. DB Navigator, Flixbus)
  • Ticketbuchungssysteme für Veranstaltungen und Freizeitangebote

 

4. Gilt das Gesetz auch für B2B Software? 

Nein, B2B-Software ist nicht betroffen. Allerdings bringt die digitale Barrierefreiheit Chancen, von denen auch B2B-Bereiche profitieren. 


Für folgende Software-Produkte gilt das Gesetz nicht:  

  • Software, die nur für Unternehmen (B2B) entwickelt wird
  • Spezielle Unternehmenssoftware (z. B. ERP-Systeme wie SAP, interne Buchhaltungssoftware)
  • Software von Kleinstunternehmen (weniger als 10 Mitarbeiter, Jahresumsatz unter 2 Millionen Euro)
     

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5. Welche Vorteile bringt die digitale Barrierefreiheit Unternehmen?

Digitale Barrierefreiheit bietet zahlreiche Vorteile – sowohl für Nutzer:innen als auch für Unternehmen:

 

1. Erweiterte Zielgruppe

Barrierefreie digitale Produkte erreichen mehr Menschen. Darunter auch ältere Personen oder Nutzer:innen mit temporären Einschränkungen (z. B. gebrochener Arm, schlechte Lichtverhältnisse).

 

2. Verbesserte Benutzerfreundlichkeit

Viele barrierefreie Maßnahmen steigern die allgemeine User Experience, z. B. klare Kontraste, einfache Navigation oder verständliche Inhalte. Die Nutzerfreundlichkeit ist entscheidend für den Erfolg eines digitalen Produkts.

 

3. Rechtliche Sicherheit

Das BSFG verpflichtet Unternehmen, digitale Produkte und Dienstleistungen bis 2025 barrierefrei zu gestalten. Wer frühzeitig handelt, vermeidet rechtliche Risiken und mögliche Strafen.

 

4. Steigerung der Markenreputation

Unternehmen, die Barrierefreiheit aktiv umsetzen, zeigen soziale Verantwortung und stärken damit auch ihr Image.

 

5. Zukunftssicherheit

Frühzeitige Investitionen in Barrierefreiheit sorgen dafür, dass Produkte langfristig nutzbar bleiben und sich einfacher an neue gesetzliche Anforderungen anpassen lassen.
 

 

6. Was musst du bei der Produktentwicklung beachten? 

Die wichtigsten Anforderungen orientieren sich an den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.2), die international als Standard für barrierefreie Webinhalte gelten. Diese Anforderungen lassen sich in vier Grundprinzipien unterteilen:
 

1. Wahrnehmung

Digitale Inhalte müssen für alle Nutzer:innen – auch mit Einschränkungen – wahrnehmbar sein. Das bedeutet:

  • Textalternativen für nicht-textliche Inhalte (z. B. Bilder, Icons, Diagramme) müssen vorhanden sein. Beispielsweise sollten Bilder mit sinnvollen Alt-Tags versehen sein, damit Screenreader sie erfassen.
  • Guter Farbkontrast: Texte und UI-Elemente müssen sich klar vom Hintergrund abheben. Empfohlene Kontrastverhältnisse:
  1. Normaler Text: mindestens 4,5:1
  2. Großer Text (ab 18 pt oder 14 pt fett): mindestens 3:1.
  • Unterstützung für verschiedene Wahrnehmungskanäle: Inhalte sollten beispielsweise nicht nur über Farben vermittelt werden: Fehlermeldungen sollten nicht nur rot markiert, sondern auch mit einem Symbol oder Text versehen sein.

 

2. Bedienbarkeit 

Die Benutzeroberfläche muss vollständig per Tastatur und assistive Technologien (z. B. Screenreader) bedienbar sein:

  • Tastaturzugänglichkeit: Alle Funktionen müssen ohne Maus nutzbar sein (z. B. mit der Tab-Taste navigierbar).
  • Fokus-Management: Aktive UI-Elemente müssen einen sichtbaren Fokuszustand haben (z. B. deutliche Umrandung bei Buttons und Formularfeldern).
  • Vermeidung von Zeitbeschränkungen: Nutzer:innen müssen ausreichend Zeit haben, um Inhalte zu lesen oder Eingaben zu machen, bevor sie automatisch verschwinden.

 

3. Verständlichkeit

Die Inhalte und Funktionen müssen leicht verständlich und vorhersehbar sein:

  • Klare und einfache Sprache: Vermeidung von Fachbegriffen, Abkürzungen oder komplizierten Formulierungen.
  • Vorhersehbare Navigation: Elemente sollten konsistent angeordnet sein, z. B. sollte das Hauptmenü immer an derselben Stelle sein.
  • Fehlermeldungen und Hilfestellungen: Formulare sollten klare Anweisungen geben (z. B. „Geben Sie eine gültige E-Mail-Adresse ein“) und Fehler sollten verständlich erklärt sein.

 

4. Kompatibilität

Digitale Inhalte müssen mit einer Vielzahl von Endgeräten und Hilfsmitteln kompatibel sein:

  • Screenreader-Unterstützung: Alle interaktiven Elemente müssen mit ARIA-Attributen (aria-label, role etc.) korrekt ausgezeichnet werden.
  • Valider HTML-Code: Eine saubere, semantisch korrekte HTML-Struktur hilft, dass Screenreader Inhalte richtig interpretieren.
  • Kompatibilität mit verschiedenen Browsern und Technologien: Die Webseite oder Anwendung sollte in verschiedenen Browsern und mit assistiven Technologien getestet werden.

 

 

7. Unsere 5 Tipps für die Umsetzung

Unsere UX Designer:innen beschäftigen sich intensiv mit der digitalen Barrierefreiheit. Einige Aspekte berücksichtigen wir ohnehin in der Produktentwicklung, da sie – zusätzlich zur Inklusion – die Nutzerzufriedenheit der Software signifikant erhöhen.

Wir haben uns daher über die Jahre einen Erfahrungsschatz aufgebaut und geben dir 5 Tipps für die Praxis an die Hand:

 

 

1. Von Anfang Barrierefreiheit mitdenken: 

Bei der Entwicklung einer Software sollte das Team die digitale Barrierefreiheit bereits von Anfang an berücksichtigen: Von der Konzeptionsphase bis zum Roll-Out der Software – ist Barrierefreiheit in jeder Entwicklungsphase relevant. 
Nachträglich die Anforderungen sicherzustellen, ist zeitintensiv.

Wenn das Team die Anforderungen bereits zu Beginn einbezieht, hält sich der Aufwand in Grenzen. Daher beziehen wir die Vorgaben bereits in der Produktvision, dem MVP (=Minimal Viable Product) und dem Styleguide ein. Wir setzen sie direkt in der Entwicklung um, testen die Software und beziehen die Nutzer:innen mit ein. 

 

2. Alle mit einbeziehen – auch User:

Das Team sollte Menschen mit Behinderung frühzeitig in die Entwicklung einbinden. Ihr Feedback hilft dem Team, die Bedürfnisse der Zielgruppe besser zu verstehen und den größten Mehrwert für die Nutzer:innen zu schaffen. Damit die Software wirklich barrierefrei gestaltet ist.  
Alle im Team sind verantwortlich.

Entwickler:innen beachten die Anforderungen der Barrierefreiheit direkt im Code, die Product Owner beim Formulieren oder Priorisieren der Tickets. Die UX Designer:innen nehmen eine zentrale Rolle ein: Sie formulieren die Designvorgaben und testen die Software auf Barrierefreiheit. 

 

3. Simulationstest durchführen: 

Das Team sollte die Software regelmäßig hinsichtlich Barrierefreiheit überprüfen. Das übernehmen in der Regel die UX Designer:innen. Dabei helfen verschiedene Simulationstools wie Screenreader, Kontrast-Checker oder andere Testwerkzeuge, um Barrieren aus unterschiedlichen Perspektiven zu identifizieren. So kann das Team Probleme frühzeitig erkennen und gezielt beheben. 

 

 

4. Styleguide anpassen:

Um langfristig die barrierefreie Gestaltung von Software in der Organisation sicherzustellen, sollten alle gewonnenen Erkenntnisse in den unternehmenseigenen Styleguide einfließen. Dieser dient als Grundlage für zukünftige Entwicklungen und verhindert unnötige Anpassungen im Nachhinein. 


Ist eine Software bereits entwickelt und geht es um eine nachträgliche Anpassung? Dann ist das Update des Stylguides einer der ersten Schritten: Die UX Desinger:innen sollten die neuen Designvorgaben hinterlegen und sie mit dem Team iterativ umsetzen. 

 

5. Schrittweise Refinements: 

Barrierefreiheit ist ein langfristiges Anliegen und bedarf kontinuierlicher Verbesserung. Identifizierte Maßnahmen lassen sich in kleinere Aufgaben aufteilen, die das Team in Refinements sowie Tickets dokumentiert. So gestaltet das Team die Software schrittweise barrierefrei – ohne den gesamten Entwicklungsprozess zu überlasten.


Das betrifft insbesondere existierende Software. Auf Barrierefreiheit lässt sich nicht von heute auf morgen umstellen. Simulationstests und Feedback der User helfen aber, das Optimierungspotenzial zu identifizieren. Dann geht es ans Priorisieren und Umsetzen!

 

Fazit: Barrierefreiheit stärkt uns alle

Digitale Barrierefreiheit geht uns alle an. Mit dem BFSG geht Deutschland einen wichtigen Schritt. Unternehmen sind gefordert, Barrieren abzubauen und Software benutzerfreundlicher zu gestalten – damit digitale Produkte für alle Menschen zugänglich werden. 

Die gute Nachricht: Barrierefreiheit kommt uns allen zugute – heute und in Zukunft. Sie bietet Chancen: Unternehmen erreichen eine größere Zielgruppe, verbessern die Nutzerfreundlichkeit und sichern sich langfristig Wettbewerbsvorteile. Und sie lässt sich schrittweise umsetzen: 

  • Barrierefreiheit sollte von Anfang an in die Produktentwicklung integriert sein, da eine nachträgliche Anpassung oft aufwendiger ist.
  • Alle Teammitglieder sind verantwortlich für die Umsetzung, die sie schrittweise angehen können. 
  • Nutzer:innen mit Behinderungen sind frühzeitig einzubinden.
  • Regelmäßige Tests mit Simulationstools wie Screenreadern oder Kontrast-Checkern helfen, Barrieren zu identifizieren.
  • Um langfristig Barrierefreiheit zu gewährleisten, sollten gewonnene Erkenntnisse in den Styleguide fließen.

 

 

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